samedi 11 octobre 2014

2014 Auf dem Hugenottenpfad in der Chartreuse



 

 

 

 

Jochen Sicars

Von Grenoble nach Chambéry

Das Wandern auf dem Hugenottenpfad ist offensichtlich suchtgefährdend: Nachdem ich Alkohol, Zigaretten und  Crack erfolgreich aus dem Weg gehen konnte, hat mich seit nunmehr vier Jahren die Wandersucht voll im Griff. Es wird schwer werden, im kommenden Jahr eventuell auf die letzten Kilometer des Weges in Frankreich zwischen Chambéry und Genf zu verzichten, weil sich dieses Jahr nach täglichen 22 km über Berg und Tal doch fühlbare Muskelkater eingestellt haben. Es sei denn ...

Auch auf dieser Etappe ist Freund Rainer aus Zürich wieder mit von der Partie; neu ist, dass wir unsere Wanderung in diesem Jahr von einem für uns neuen Veranstalter, PEDESTRIA, organisieren lassen haben. SAFRANtours bedient diesen Sektor – jedenfalls bisher – noch nicht. Auch hier wird die Route komplett geplant, auch hier wird das große Gepäck von Herberge zu Herberge transportiert, ohne dass wir uns darum zu kümmern hätten.

Untrennbar - seit damals vor 30 Jahren auf Ibiza
Im vergangenen Jahr habe ich täglich das Wetter beschrieben; in diesem Jahr erübrigt sich das, da wir eine durchgehend sonnige Woche haben werden, während die Vorwoche doch sehr zu wünschen übrig ließ und uns ein Übermaß an schlammigen Pisten beschert hätte. Und da dies eigentlich ein Bericht für uns selbst und unser näheres Umfeld ist, fließen auch immer mal Anmerkungen zu den leiblichen Genüssen ein, die ja auch nicht fehlen sollten.

Montag, 01.09.2014
Anreise nach Grenoble
Ich habe dieses Jahr für den Zug optiert; um 13 Uhr 38 nehme ich den TGV nach Valence, umsteigen, weiter um 14 Uhr 15 im TER nach Grenoble. Am Bahnsteig drei junge Mädchen mit gigantischen Reisetaschen (eher Säcken) auf Rollen, die sie nicht in den Wagen hoch bekommen. Der edle Ritter greift ein --- und bricht selbst fast zusammen unter diesen Gewichten. Man muss schon recht hübsch daher kommen, um immer jemand zu finden, der da hilft ... Fahrt entlang des Vercors-Gebirges, in der Hand eine Broschüre des Dauphiné-Verlages, in der genau dieses in allen Einzelheit beschrieben wird. Schon ein neues Objekt der Begierde für künftige Aktivitäten? Mal sehen, zunächst lese ich mich mal ein wenig ein zu unserem diesjährigen Vorhaben.

Grenoble. Im vergangenen Jahr haben wir unsere Tour am „Lac de Laffrey“ beendet, es reichte nicht mehr bis hinunter nach Vizille, Grenoble konnte uns als Wandergebiet auch nicht reizen. Die Stadt, die zu Zeiten der Hugenottenflucht um 20 000 Einwohner zählte, wartet heute mit deren 200 000 auf, fast 500 000 in ihrem Einzugsgebiet. Zudem gab es und gibt es auch jetzt noch auf dem Weg dorthin umfangreiche Bauarbeiten an der Druckleitung für das Wasserkraftwerk, das Grenoble und seine Umgebung mit Strom versorgt. Der übliche Wanderweg bis nach unten ist durch eine zeitweise Umleitung ersetzt. So wird unsere Wanderung auch morgen erst ca. 10 km vom Stadtkern entfernt in Biviers am Fuße des Chartreusegebirges beginnen, um das urbane Gebiet schon mal hinter uns zu lassen.
 
Grenoble Ende des 17. Jh.

Grenoble war zur Zeit des Widerrufs des Edikts von Nantes in katholischer Hand. Es gab auch schon seit langem die Fluchtbewegung Richtung Genf aufgrund der dreißig Jahre andauernden Religionskriege. Wie zuvor unter reformierter Besetzung, wurde auch jetzt mit milder Hand regiert und das  Edikt von Fontainebleau nur in abgeschwächter Form befolgt. Keine erbitterte Verfolgung Andersdenkender, keine Dragonaden. Flüchtende fanden dort immer bei bestimmten Adressen Unterkunft. Erst auf der weiteren Strecke Richtung Genf, so auch im nördlich angrenzenden Grésivaudan, gab es wieder die Gewinn bringende Jagd auf die Flüchtenden. Hier hatten die Religionskriege zu viele Opfer und Schäden gefordert, hatten sich tief ins Gedächtnis der Bewohner eingebrannt. Hier galt Toleranz zero.

Ankunft in Grenoble um 15 Uhr 30. Das Hotel des Alpes (ohne Restaurant) liegt nur wenige hundert Meter vom Bahnhof entfernt. Einchecken, Rainer ist noch auf der Reise. Unser Restaurant „L’Inattendu“, ebenso wie das Hotel von Pedestria ausgewählt, liegt direkt gegenüber. „L’Inattendu“, das Unerwartete, der Name ist Programm: 

Heute Morgen haben dort umfangreiche Restaurierungsarbeiten begonnen, die sich die ganze Woche hindurch hinziehen werden. Es dauert nur wenige Minuten, da habe ich ein sehr interessantes Restaurant in der Nähe aufgetan, „La Ferme à Dédé“ – mit regionalen Produkten der Dauphiné. Problem gelöst. Auf dem Weg zum Bahnhof kommt Rainer mir bereits entgegen. Zum Essen ist es noch zu früh, also machen wir uns auf den Weg durch die Grenobler Altstadt, zur Isère mit ihrer originellen Seilbahn, ins Uniquartier mit seiner jugendlich lebhaften Atmosphäre, die Studenten wie in England in Gruppen auf den Rasenflächen, vor den Cafés ...

Gegen 20 Uhr sind wir wieder zurück am Restaurant, freundlicher Empfang, reichhaltige Karte: Wir entscheiden uns für ein Gratin dauphinois, für mich mit einer Walnusscrème, Salat und gemischtem Aufschnitt, für Rainer mit Garnelensauce, Krebs und gemischtem Salat. Einmal mehr ist man stolz darauf, mir als einzigen Tee Earl Grey anbieten zu können – den ich zutiefst verabscheue. Also beide Wein, wie sich’s gehört.

Zurück ins Hotel, vorher haben wir noch ein Picknick für morgen eingekauft, das der Mann am Empfang freundlicherweise im hauseigenen Kühlschrank einstellt.


Dienstag, 02.09.2014
Von Grenoble nach Saint Pancrasse – 13 km Taxi + 22 km Marsch. Da Pedestria die zu bewältigenden Höhenunterschiede noch nicht vorliegen hatte, kann man diese nur anhand der IGN-Karten schätzen.

Wecken um 7 Uhr, 8 Uhr Frühstück, um 8 Uhr 30 erscheint unser Taxi, das uns aus Grenoble heraus nach Biviers (505 m) am Fuße des Chartreusegebirges und unser Gepäck weiter nach St. Hilaire bringen wird. 

Nicht immer ganz klar - links?  oder rechts ?

Der Anstieg beginnt sofort hinter dem Parkplatz und erreicht in kurzer Zeit ca. 800 m Höhe. Der Weg führt durch herrliche Laubmischwälder mit gelegentlichen Aussichten auf das unten sich ausbreitende Tal der Isère – das Grésivaudan. Kurzer Abstieg zu einem anderen Parkplatz, erneuter Anstieg, das Ganze dreimal; am Ende des Tages hätten wir gern auf einem der letzteren Parkplätze begonnen ...


Denn nun, nach der Tour d’Arce, einer kleineren Burganlage der Familie derer von Arces, die im 15. Jh. zu Zeiten des berühmten Bayard eine große Rolle im Grésivaudan gespielt haben, geht es erst richtig los. 


Nach einem langen Anstieg entlang eines derzeit trockenen Gebirgsbaches überschreiten wir kurz unterhalb der Steilwand das Flussbett und finden gleich darauf einen einladenden Picknickplatz. Die Gebirgsbäche auf dieser Bergseite, derzeit allesamt trocken, zeigen allerdings durch ihre Verbauten mittels enormer Beton- oder Mauerbarrieren, mit welcher Gewalt seit jeher die Stein- und Schlammlawinen im Herbst oder Frühjahr zu Tale schießen und das Leben dort untenl mit seinen fruchtbaren Schwemmlandböden bedrohen.


Eine der kleineren Wildbachverbauten - immer wieder zu erneuern

 Als Dessert zum Picknick erwartet uns ein besonders steiler Anstieg zum Col du Baure auf 1200 m Höhe, ein herrlicher, schmaler Weg, wieder unter voller Abdeckung im Mischwald. 


Fünfzehn Serpentinen sollen es sein und wenn man die Serpentine zu zwei Spitzkehren rechnet, mag das auch wohl hinkommen. Zick-Zack ohne Ende. Ein plötzlicher, besonders schöner Ausblick auf die Steilwände oberhalb unseres Weges lässt uns anhalten; der Griff zu meinen Fotoapparat: Weg! Fieberhafte Suche in allen Taschen – endlich findet er sich im Rucksack, wo er während unseres Picknicks gelandet ist. Erlöst geht es weiter ... 
und mein Schlapphut bleibt auf einer Schautafel zum Thema Flussverbau liegen.




Blick auf die Dent de Crolles
 
Endlich oben angekommen (Rundblick nach allen Seiten), dürfen wir aufatmen und uns auf den Abstieg über Les Meunières und Le Tournoud nach St. Pancrasse freuen, unser heutiges Ziel. Er zeigt sich mühseliger als erwartet und macht unseren inzwischen 73 und 78 Jahre alten Knien schon zu schaffen. Nach einigen Grübeleien, wie wir uns aus dem Wirrwarr der Straßen und Wege um Les Meunières befreien könnten, nehmen wir schließlich ein Stück der Landstraße und finden ohne Mühe unser heutiges Quartier in St. Pancrasse (995 m), das B&B Le Bois Soleil und seine charmante Gastgeberin Edith

Edith's Kamin
Dusche, kleine Ruhepause, dann finden wir uns am großen Tisch im Esszimmer, zunächst in Bewunderung der mit äußerster Präzision von Madame Edith verlegten Verkachelung hinter dem neuen Wandkamin, später kommen noch zwei junge Freunde ihres Sohnes dazu, die hier eine Woche Urlaub verbringen. 




Ex Junior-, jetzt Gästezimmer
Der Apéritiv mit einem exzellenten Vin de Noix (Spezialität der Region) ist viel versprechend, die Tomatensuppe (mit Nachschlag) hält des Versprechen und die Hühnerbrustfilets auf den landestypischen Ravioli dauphinois, dazu diverse Gemüse und schließlich noch ein fantasievolles Dessert lassen uns die Strapazen dieses ersten Wandertages schnell wieder vergessen. Das Ganze untermalt mit reger Unterhaltung –  unter interessierter Beteiligung der aus Grasse und Nizza angereisten jungen Leute – um zehn Uhr liegen wir im Bett, noch zwei Seiten Krimi, dann durchschlafen bis zum Morgen.


Mittwoch, 03.09.2014
Von Saint Pancrasse (Saint-Hilaire-du-Touvet) nach Saint-Bernard-du-Touvet

Um 9 Uhr sind wir wieder „auf Piste“, in Eile, den viel gerühmten Rundweg der Petites Roches dieses Plateaus zu entdecken, das sich in halber Höhe des Massivs der Dent de Crolle erstreckt. Zu eilig, denn schon nach zwanzig Metern geht mein Handy und bevor ich es aus der Tasche habe, kommt schon Madame Edith gelaufen, um mir meine Wanderunterlagen nachzubringen. Dass auch mein Zehn-Euro-Aldi-Wecker dabei auf der Strecke bleibt, erfahre ich erst nach meiner Rückkehr per E-Mail. Offensichtlich braucht es angesichts der bisherigen Häufung von Kollateralschäden noch ein wenig Zeit, bis ich richtig „im Weg“ bin.

Die Petites Roches sind ein besonders malerischer Teil des Plateaus; man wandert die ganze Zeit auf dem Rand des Felshanges, mit Atem beraubenden Ausblicken auf das 300 bis 500 m tiefer liegende Tal der Isère. Gleich hinter unserer Herberge beginnt eine Abkürzung zu diesem GRP (Chemin de grande Randonnée de Pays) hinunter entlang eines Flusstals und dann wieder hoch zur Felskante, wo noch der Morgennebel den Ausblick ins Tal erschwert. 

 
500 Meter tiefer liegt Crolles unter dem Morgennebel


Doch währt das nicht lange. Wir kreuzen eine Stelle, an der eine seltsame Einrichtung, ähnlich einem großen Teleskop, ständig schwenkend unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Lt. Infotafel soll sie die Höhe des Grundwasserspiegels unten im Tal überprüfen – wie auch immer das funktionieren mag.

Heute dürfen wir in vollen Zügen eine Besonderheit unserer Wandertour genießen: Während drei der vier Wandertage jeweils 22 km Wegstrecke ausmachen, sind es heute nur 15 und wir haben ausreichend Zeit für Besichtigungen. Die nutzen wir vor allem, als wir im Bereich der Standseilbahn von Saint-Hilaire ankommen (sie soll die steilste Frankreichs sein), die Anfang des 20. Jh. erbaut wurde, um das Material für die hoch über dem Ort erbauten Tuberkulose-Kliniken hoch zu schaffen. 

Vor wenigen Jahren machte man sich dann plötzlich Gedanken darüber, dass ja eventuell mal ein Erdrutsch von der Dent de Crolles diese Anlage gefährden könnte. Man gab sie also auf und sie steht noch heute ungenutzt dort und verrottet langsam vor sich hin. Die Seilbahn erfreut sich aber nach wie vor reichlichen Zuspruchs, vor allem im September, wenn wieder einmal die seit über 40 Jahren veranstaltete Coupe Icare stattfindet –  ein gigantisches Deltaplan- und Gleitschirm-Spektakel, das 2013 mehr als 75 000 Zuschauer und Teilnehmer anzog. Monate vorher sind bereits alle Beherbergungsmöglichkeiten ausgebucht und wenn wir für fünfzehn Tage später hätten buchen wollen, wäre aus unserem Vorhaben sicherlich nichts geworden

Das Seilbahn-Restaurant
Doch wir kommen auch jetzt in den vollen Genuss dieser Sportart; gleich hinter der Seilbahn liegen die beiden Absprungschanzen und wir denken uns ganz naiv, dass man sicher den einen oder anderen bei der Ausübung seiner Leidenschaft beobachten könnte ... Weit gefehlt, es wimmelt geradezu von Gleitschirmseglern, die die Deltaplansegler ganz eindeutig auf den zweiten Platz verdrängt haben und die offensichtlich leichter zu manövrieren sind. Alle zwei Minuten rennt einer den abwärts geneigten und mit Kunstrasen belegten Hang zunächst rückwärts und den Schirm hinter sich her ziehend hinunter, wendet dann und hebt schon weit vor der Felskante ab (der noch eine Busch- und Baumgruppe zum Auffangen unglücklich gestarteter Aspiranten vorgelagert ist). Innerhalb von Sekunden hat ihn die Thermik erfasst, kreiselnd gewinnt er an Höhe und fügt sich ein in diesen „Tanz der Vampire“, den wir nicht müde werden zu beobachten.


 
Wenn's mal nicht klappt - hier bleibt man hängen


Wir können uns kaum satt sehen. Bis ein Knurren im Magen anzeigt, dass es wohl mal wieder Zeit ist für eine kleine Stärkung. Heute kein Picknick, angesichts der Auswahl an Restaurants rund um Seilbahn und Parapenteschule optieren wir für die Grange du Loup ein wenig weiter oben am Berg, wo ein kleiner Schlepplift zeigt, dass hier im Winter sogar in bescheidenem Maße Ski gelaufen werden kann. Hähnchenschenkel confit mit Gemüsebeilage, ich bekomme sogar einen trinkbaren Tee und weiter geht es – hier vielleicht nicht gerade auf den Spuren der Hugenotten ...

Zwar wird dieser Weg, den wir seit nunmehr vier Jahren unter die Wanderstiefel nehmen, aufgrund des Exodus der Hugenotten im 17. Jh. so genannt, aber er folgt natürlich nur ganz generell deren Fluchtrichtung und wurde – so wie in Deutschland und der Schweiz – gleichzeitig als Fern- und Erlebniswanderweg ausgestaltet. Es ist jedoch auch durchaus möglich, dass man damals den Weg über dieses Hochplateau gewählt hat, weil es kaum bewohnt war und unten im Tal die durchgehend katholische Bevölkerung alles tat, um den Flüchtlingen ihr Vorankommen zu erschweren. Heute fällt es bei allem Hintergrundwissen schwer, sich vorzustellen, wie diese Menschen – zumeist in finsterer Nacht –  sich auf unbekannten und gefährlichen Wegen hunderte von Metern über der Talsohle voran gequält haben. Heute wandern wir auf ausgebauten und beschilderten Wegen bei schönstem Sonnenschein über dieses von Dörfern gesprenkelte Plateau mit der einzigen Sorge, rechtzeitig ein Eiscafé, einen Lebensmittelladen oder eine Apotheke zu finden. Die sind übrigens nicht so sehr häufig und für den morgigen Tag sind wir gut beraten, uns da einige Gedanken zu machen.


Le Moulin de Porte de Traine

Doch zunächst mal vom Restaurant zurück zum GRP und weiter auf der Felskante, bis es dann kräftig bergab geht durch einen tiefen Einschnitt im Plateau; es wird feucht und feuchter, bis wir unten bei einer ehemaligen, jetzt


sehr verfallenen Mühle, Le Moulin de Porte-Traine, ankommen und nun wieder einige hundert Meter Höhe gut machen müssen. Dieser Weg ist heute, wie bisher alle anderen, gut zu

gehen, aber bei Regen werden viele der Wege hier zum großen Teil sehr schlammig und rutschig und es wird Wanderern in Begleitung von Packeseln

dringend empfohlen, an mehreren Passagen lieber einen Umweg im Inneren zu nehmen. Oben angekommen, lädt eine Wiese, umgeben von gut bestückten Brombeersträuchern, zur Rast ein. Von hier aus ist es nun nicht mehr weit zu unserer nächsten Herberge Le Sabot des Muses in Saint Bernard-du-Touvet , auf der D 30c zum Col de Marcieu.





Im Sabot des Muses ist heute Ruhetag, doch man ist präsent und hat uns bereits gehört. Madame Nathalie kommt von der Siesta im Garten, Stirnband und Afrolook, ein strahlendes Lächeln – schon fühlen wir uns "zu Hause". Zimmerübernahme, Dusche, ab auf’s Bett und dekomprimieren. Zwar waren es heute nur die beschriebenen 15 Kilometer, aber die hatten es in sich und dazu die reichlichen Erlebnisse ...

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Unten im Restaurant läuft Eric Clapton in Dauerschleife, an den Wänden eine sehr schöne Bilderausstellung zum Thema Exil, ein einzelner Wanderer mit wenig Tendenz zu Kontakten setzt sich an den am weitesten entfernten Tisch, bevor er sich oben vor dem Fernseher verschanzt. Monsieur Jacky – wie eine Fotomontage an der Wand zeigt offensichtlich ein As der letzten Boulemeisterschaft – sitzt seit unserer Ankunft fest gemauert vor seinem


Laptop und begibt sich dann in die Küche, um uns ein wahrlich gastronomisches Menu zu bereiten. Salatteller mit rohem Schinken, exzellentem Pesto und gehobeltem Parmesan, Gigot d’Agneau mit Süßkartoffelpuree (gewürzt mit Sternanis und Ingwer) sowie als Nachtisch Faisselle mit Himbeersauce. Tief befriedigt begeben wir uns wieder hoch zu unserer Schlafstätte – und vergessen, das Picknick für morgen zu bestellen ...

Donnerstag, 04.09.2014
Von Saint-Bernard du Touvet nach Barraux

Heute bereits Abmarsch um 8 Uhr 30, wieder 22 km über (reichlich) Berg und Tal und auf der ganzen Strecke keine Chance, irgendetwas kaufen zu können. Da wir unser Picknick nicht rechtzeitig bestellt haben, murrt Monsieur Jacky zunächst mal ein bisschen, zaubert uns dann aber doch zwei gewaltige „Runken“ von belegten Graubrotscheiben, willkommene Abwechslung zu den üblichen Baguette-Sandwichs.

Von hier zum Col de Marcieu wären es eigentlich nur dreißig Minuten auf der Landstraße, aber unser Wanderweg ist natürlich nach anderen Gesichtspunkten angelegt und es wird dann mehr als drei Stunden dauern, bis wir diese Strecke – zugegebenermaßen weit erfüllter – hinter uns gebracht haben. Es geht zunächst per Landstraße wieder zurück zum GRP, die sich beide weiter unten kreuzen und dann auf dem Letzteren noch weiter abwärts zu einem Wasserfall, den Cascades du Glésy, der allein den Umweg wert war. Uuuuund wieder hoch bis zum Fuß des Steilabhangs in ca. 900 m Höhe. Unterwegs werden wir überrascht von Terrassierarbeiten auf dem Weg, dem schon mal durch Fällen aller Bäume auf der Hangseite alle eventuellen Wegmarkierungen zum Opfer gefallen sind. Mehrfach stoßen wir auf Abzweigungen, die unser Weg nach oben sein könnten, aber nicht sein müssen. 

Nach
Cascades du Glésy
langer Suche und mehreren vergeblichen Wegetests finden wir schließlich den ersten der beiden Wegweiser Bois de Beaumont, der nach zeitweiliger Entfernung nun schief in der aufgerissenen Piste steckt und uns rätseln lässt, ob wir weiter nach unten oder nach links hoch gehen sollen. Da unser Ziel „oben“ ist, nehmen wir den, der sich dann als etwas länger erweist und zudem einmal mehr zeigt, dass man den Entfernungsangaben dieser Wegweiser ganz allgemein nicht zu sehr trauen sollte. So spricht der eine Wegweiser vom Weg # 800 mit 220 m Länge, der andere dagegen von Weg # 700 mit tatsächlich 0.7 km Länge (So kam man auch bei der Summe der Entfernungen anlässlich meiner Überquerung der Lance zwischen Dieulefit und Nyons nie auf das gleiche Resultat).




Und weg sind sie, die hilfreichen Markierungen an den Bäumen

 Weiter geht es bergan, Rainer meistens voraus, weil er als inzwischen (fast) echter Schweizer die Ruhe weg hat. Und er hat stets noch Luft genug zu einem Schwätzchen von Zeit zu Zeit, Jedoch nicht immer, auch da sind wir uns recht ähnlich und deswegen ist es auch kein Problem für uns, jedes Jahr erneut zusammen loszuziehen. 




Schließlich überqueren wir doch den Bergkamm, wo gerade eine weitere Holzfällaktion stattfindet. Wir lassen uns auf einigen Baumstämmen zum Picknick nieder und kurz darauf hat auch der Waldarbeiter seine Kettensäge gestoppt und wir können unsere Mahlzeit in Ruhe einnehmen. Zehn Minuten später passieren wir die ersten Holzhäuser eines ökologischen Projekts auf dem Col de Marcieu, der sich als ein ausgesprochenes Freizeitgebiet erweist – mit Picknickplätzen, Sessellifts, Rutschen ... Sogar ein Bus scheint hier in der Saison zu verkehren und auch jetzt noch in Richtung Saint Hilaire – die falsche Richtung, für uns nicht interessant.


„Mögen täten wir schon wollen ...“, wie Karl Valentin so schön sagte. Denn von nun an haben wir ca. fünf Kilometer Landstraße vor uns, Tannenwälder rechts und links, gelegentlich mal ein Auto, ein Weiler dann und wann, Ruhe pur. Also auf denn: Klotz, Klotz, Klotz am Bein ...

Jeder, der das Wandern auf Landstraßen kennt, weiß, dass diese dem Körper mehr abverlangen als Wanderwege. Schließlich ein weiterer Weiler, Le Villard, ein paar Tischchen und Stühle. Doch endlich ein kleines Gartenlokal ? Fehlanzeige, nur die Leute einer kleinen Käserei, die gerade ihren 5-Uhr-Tee einnehmen. Weiter ...











Dann endlich wieder ein Übergang zu einem Weg – der natürlich wieder kräftig in die Höhe führt und wieder hinunter nach Les Prés. Nochmals das Gleiche, um in Barraux nicht den Blick von oben auf die Festung zu verpassen. Dann sind wir im Ort selbst – pieksauber und durchgehend neu gepflastert – und können endlich das Eis bekommen, das bereits seit langem wie eine Fata Morgana vor meinen Augen schwebt. Rainer ist solchen Verlockungen scheinbar nicht so sehr ausgesetzt – aber er weist es auch nicht gerade zurück, sicher nur mir zu Gefallen ;-)


Fort Barraux Ende des 17. Jh.


Die Festung Barraux ist sicherlich mehr wert als die kurze Erwähnung weiter oben. Ende des 16. Jh. erbaut Herzog Karl-Emanuel I von Savoyen auf dem Territorium Frankreichs, das derzeit durch die Religionskriege geschwächt scheint, den Vorgänger dieses Forts, um seinen Anspruch auf die fruchtbare Ebene des Grésivaudan durchzusetzen. Als zusätzliche Provokation verleiht er seinem Projekt den Namen Fort-Saint-Barthélémy in Anspielung auf das Massaker an den Reformierten in Paris. Doch der ehemalige Reformierte Heinrich IV von Frankreich, erst vor kurzem lediglich zum Katholizismus konvertiert, um König von Frankreich werden zu können, ist nicht bereit, hier nachzugeben. Auf die Anfrage bei seinem Heerführer Lesdiguières, ebenfalls übergetreten (Cuius regio, eius religio - wes der Fürst, des der Glaub'“ ), warum dieser nichts gegen diesen Affront unternimmt, antwortet dieser: „Sire, die Konstruktion eines Forts an dieser Stelle ist sicher ganz besonders gut gewählt. Aber in Anbetracht der finanziellen Lage der Krone ist es wohl besser, die Ausgaben dazu Ihrem Cousin in Savoyen zu überlassen. Wenn er in etwa fertig ist und bevor er dort eine richtige Garnison einrichtet, übernehme ich dann im rechten Moment“.
Im Morgengrauen des 15. März 1598 mischt sich unter die Schafherde eines Hirten, der diese gewohnheitsmäßig auf der äußeren Grabenböschung und in den Gräben des Forts weiden lässt, eine Gruppe von Soldaten Lesdiguières, mit Schaffellen getarnt und wenig später ist das Fort in der Hand des Königs von Frankreich.


Fort Barraux heute.
Foto der Webseite der Association de Sauvegarde et Valorisation de Fort Barraux

Das Fort wird später unter Ludwig XIV. von dessen Festungsbaumeister Vauban zur heutigen Form umgebaut. Von diesem ist übrigens bekannt, dass er sich dem König gegenüber eindringlich dafür ausgesprochen hat, die Verfolgung der Hugenotten einzustellen, um dem Aderlass an Intelligenz und handwerklichem Können in Frankreich Einhalt zu gebieten. Vergebens – das Privileg von „Führern“.

Wir haben Pech; mit Ende der Feriensaison ist das Fort ab 1.09. nurmehr für Gruppen geöffnet und wir müssen uns mit dem Blick von oben und einem Rundgang auf den Wällen rundum begnügen. Wobei es schwer fällt, sich die Schafherden damals beim Angriff auf das Fort vorzustellen, denn die Gräben sind bis zu drei Meter Höhe zugewuchert. Schade, der Grund aber sicher auch hier der in Frankreich zunehmende Mangel an öffentlichen Zuschüssen, die früher einmal so reichlich flossen.

Ein Blick noch zur anderen Seite des Tales, wo in der Ferne hinter Pontcharra der Turm des Château de Bayard zu sehen ist. Leider wird die Zeit nicht reichen, das Anwesen dieses Mannes zu besichtigen, dessen Ruf einst selbst bis nach Deutschland gedrungen ist. Pierre de Terrail, Herr von Bayard, ist derjenige, von dem der Ehrentitel „Ritter ohne Furcht und Tadel“ sich herleitet. Sein ewiger Waffengefährte Jacques de Maille schrieb über ihn unter dem Titel « Très joyeuse et très plaisante histoire du gentil seigneur de Bayart » die Geschichte dieses letzten wahren Ritters, über seinen Mut, seinen Gerechtigkeitssinn und sein stets fehlerloses Verhalten, eine Geschichte und ein Begriff, die die Jahrhinderte überdauert haben.

Leider hat sich in Barraux oben keine Unterkunft für uns gefunden und wir müssen für den Abstieg zum anderen Ortsteil in der Flussebene weitere 100 m Höhenunterschied auf uns nehmen – um sie morgen zum Weitermarsch wieder hoch klettern zu dürfen. 


Das Hotel Le Vauban in der Nähe der Autobahnausfahrt Pontcharra ist uns seit langem bekannt. Man schläft dort gut (die Autobahn ist nur ein leises Rauschen), das Essen ist gut und hinter dem Hotel liegt ein weitläufiger Park mit See, das Richtige für müde gelaufene Wanderer. Einchecken – und schon wieder eine Überraschung: Der Besitzer hat gewechselt und der Vorgänger hat es nicht für nötig erachtet, auf unsere Reservierung (und die besonderen Modalitäten mit Pedestria) aufmerksam zu machen. Doch eine Lösung wird gefunden und bei einem unserem Kalorienverbrauch angemessenen Abendessen (Vorspeisenbuffet à Discrétion (nach Belieben), Escalope à la Milanese, Dessertbuffet) lassen wir noch einmal die heutige Etappe Revue passieren. Der Park wird vergeblich auf uns warten, das Tagebuch ebenfalls ...

Freitag, 05.09.2014
Von Barraux (im Tal) nach Chambéry

 Wach um 06 Uhr 30 – die Autobahn rauscht bereits wieder. Aus den Federn, anziehen und dann erst einmal das Tagebuch; bei den vielen Eindrücken dieser Wanderung verlieren sich schnell die Einzelheiten. Nach dem Auschecken geht es wieder hoch auf die Ebene 320 m und schon stellt sich ein erstes Hindernis in den Weg: Der angegebene Weg ist völlig von Brennnesseln zugewuchert und nicht begehbar. Wir nehmen die Landstraße (alle die bisher beschriebenen Parcoursänderungen sind kein Problem dank der von Pedestria mitgelieferten beiden IGN-Karten zur Chartreuse), dann eine Abkürzung entlang des Forts und schon sind wir wieder auf dem für heute vorgezeichneten Weg. Dieser führt hauptsächlich in Höhen um 300 m durch ein Weinanbaugebiet, das nun die allgegenwärtigen Walnussplantagen abgelöst hat. ChapareillanMureLes Marches. Auch dieser Ort hat seine Geschichte:



Der Mont Granier und im Vordergrund La Pierre hachée


Am 24. November 1248 bricht eine sieben Kilometer breite und elf Kilometer lange Schlamm- und Steinlawine vom Mont Granier (1933 m) los und wälzt sich zu Tal, alle Dörfer unter einer bis zu 140 m hohen Masse von 500 Millionen
Kubikmetern Schutt begrabend. 



Das betroffene Gebiet ist seither unter dem Begriff „Les Abîmes“ (die Abgründe) bekannt, wovon auch Straßenschilder zeugen. Auch der « Lac de Saint-André » nahe Les Marches, und « La Pierre hachée », ein gewaltiger Felsblock von mehrfacher Größe eines Hauses sind Zeugen dieser Urgewalt.


Der kleine Badesee lädt uns ein zur Mittagsrast, eine beschauliche Idylle mit altem Baumbestand, einem gut besuchten Restaurant und rundum verstreuten Zeugen einer fast 800-jährigen Vergangenheit – große Felsblöcke vom Erdrutsch


Lac de Saint André



des Mont Granier, willkommene Sitz- oder Lagerplätze für fußlahme Wanderer. Weiter geht es durch die Weinberge und Felder, Lèche, Chacusard, Saint Badolph


Hier geht ein Bus ab nach Chambéry, den wir großartig verschmähen („was uns nicht umbringt ...“  – wie Nietzsche sagte), weil wir meinen, doch noch das Haus des berühmten Bewohners von Chambéry, Jean-Jacques Rousseau, in Les Charmettes besuchen oder doch wenigstens sehen zu müssen. Welcher, in Genf geboren und calvinistisch erzogen, mit 16 Jahren der dortigen Enge entflohen war und in Annecy eine Madame de Warens kennen gelernt hatte. Mm. de Warens hatte zuvor mit vierzehn Jahren einen Offizier geheiratet, den sie jedoch bald verließ und dann zum Katholizismus konvertierte, in der Hoffnung auf sozialen Aufstieg. In der Tat garantierte ihr der König von Sardinien (und Herzog von Savoyen) in der Folge Kost und Logis, damit sie emigrierte Schweizer Protestanten aufnehmen  konnte.

Les Charmettes
Im März 1728 empfängt sie so zum ersten Mal Jean-Jacques Rousseau bei sich in Annecy,wo sie ihn später auch dazu verleitet, dem Protestantismus abzuschwören und sich taufen zu lassen. Jean-Jacques lebt in der Folge in einem Kloster in Turin und dann, als frisch Konvertierter, 1729 erneut bei Mme de Warens in Annecy. Er entflieht dem Seminar wieder und gelangt nach Lyon. Im Herbst 1731 ist er wieder zurück bei Mme de Warens. Er findet eine Beschäftigung beim Katasteramt in einem Nebengebäude des Schlosses, das heute nicht mehr existiert, scheidet dort jedoch im Juni 1732 aus, da er sich der Musik widmen will. Hier werden dank der Kontakte der Mme de Warens junge Frauen aus guter Familie seine Schülerinnen. In einem Viertel rund um die Wohnung, die er mit Mme de Warens und Claude Anet, dem omnipräsenten Diener und Liebhaber der Letzteren teilt, öffnen sich die Türen der guten Gesellschaft Chambérys für Jean-Jacques. Er bewohnt eine Zeit lang ein Appartement in der Rue Saint Réal und eine Statue zeigt ihn als „einsamen Wanderer“ auf dem Lémenc-Hügel. Von 1736 bis 1742 jedoch leben der junge Jean-Jacques Rousseau und Mm. de Warens über die Herbst- und Winterzeit in Les Charmettes, auf den Höhen über Chambéry. Hier will der junge Philosoph die Botanik und seine Leidenschaft für die Natur wie auch seine Liebe zu Mme de Warens entdeckt haben. Wie er uns durch seine berühmten „Bekenntnisse“ wissen lässt. 

Dieses Haus also wollen wir noch schnell mal eben „mitnehmen“ und das ist, wie sich bald herausstellt, keine so gute Idee. Ab Musselin steigt unser Weg noch einmal so richtig steil an, die gelben Strichmarkierungen sind rar und erscheinen nun als Dreiecke und der Weg schneidet mehrfach die Departementalstraße D 12a, die tief ins Chartreusegebirge nach Epernay/St. Pierre- d’Entremont führt. Und es geht noch weiter hoch zum Croix de la Coche auf 610 m Höhe. Wo wir gern eine kleine Pause einlegen, auch wenn die Aussicht von dort auf Chambéry im Laufe der letzten Jahre völlig mit Bäumen zugewachsen ist. 

Croix de la Coche
Der Abstieg über den GR96 malträtiert noch einmal kräftig unsere Knie und dann müssen wir doch einsehen, dass die Zeit für den Schlenker zu Les Charmettes nicht mehr reichen wird. Wir ziehen also weiter durch die beschauliche Landschaft in Richtung Chambéry und nach endlosen Schleifen auf der Landstraße – kein Taxi in Sicht – kommen wir im Stadtkern an, wo wir dank der unübersichtlichen Beschilderung ein halbes Dutzend mal Passanten nach dem Bahnhof fragen müssen (das Hotel liegt direkt gegenüber), bis wir diesen endlich finden.

Wie in fast allen Städten nicht gerade in bester Umgebung, zudem sind Bauarbeiten am und um den Bahnhof im Gange, ist das Hotel L’Actuel doch wohl erst kürzlich renoviert worden; nach Überwindung des Aufzugs, dem solche Fürsorge wohl noch nicht zuteil wurde, sind die Gänge und Zimmer neu und sauber und man kann sich wohl fühlen. Der Lärm der Straße und des Bahnhofs wird durch die altmodischen, aber wirksamen doppelten Türen und Fenster auf fast Null reduziert. Die allerdings muss man wohl auch im Sommer geschlossen halten, wenn man ruhig durchschlafen will.

Unser Abendessen bekommen wir im einfachen, aber ebenfalls sauberen Restaurant. Die Lasagne, auch hier Teil unseres „Wanderpakets“ von Pedestria und vom Chef persönlich zubereitet, zergeht auf der Zunge. Ein Dessert rundet das Mahl ab und heute muss es nur 21 Uhr werden, um uns geschafft auf die Zimmer verschwinden zu sehen.

Samstag, 06.09.2014
Chambéry – Tag der Rückreise

Um 06 Uhr 30 bin ich bereits wach – glücklicherweise, denn der vorsorglich bestellte Weckdienst für 7 Uhr hat versagt. Auch heute muss ich mein Tagebuch erst jetzt nachschreiben, gestern Abend hätte man mir dazu goldene Berge versprechen müssen (massive, keine Blattvergoldung). Frühstück, dann zum Bahnhof gegenüber, dessen Schalter gestern Abend bereits geschlossen waren. Da Rainer sich per Internet eine beängstigende Häufung von Zugwechseln und Wartezeiten herausgesucht hatte, wollen wir wissen, ob es nicht doch andere Möglichkeiten gibt, von hier aus nach Genf zu gelangen. Gibt es – der TER geht direkt und Rainer hat noch genau 8 Minuten, um die Karte zu lösen, den Bahnsteig zu finden und einzusteigen. Es klappt, und ich stehe nun da und muss die Zeit bis 11 Uhr 20 herumbringen, bis mein Zug abgeht.

Blick auf Chambéry
Ich lasse das Gepäck im Hotel und mache mich auf den Weg. Es ist Samstag und in der Innenstadt ist Wochenmarkt. Da ich keinen Stadtplan habe, mache ich mich auf die Suche nach dem Verkehrsbüro und folge dabei den reichlich vorhandenen Schildern, die auf diese Einrichtung hinweisen. Nur immer im Kreise oder gegenläufig. Als ich endlich nach mehreren Runden dort eintreffe, kann ich den sehr netten und hilfreichen Damen mitteilen, dass ich sie eigentlich gar nicht mehr brauche, weil ich die ganze Stadt auf der Suche nach ihnen bereits gesehen habe. Was sie zerknirscht bestätigen; sie bitten mich sogar, einen Fragebogen auszufüllen, in dem ich besonders auf diese Misere hinweise, die seit langem bekannt, aber nicht behoben ist. Aber gern doch ...

Schlossanlage Chambéry

Mit einem Plan und zusätzlich einem Führer ausgerüstet, kann ich nun gezielt die wichtigsten Sehenswürdigkeiten Chambérys ansteuern – das Schloss, die Altstadt mit der Place Saint Léger und ihren gedeckten Alleen (die eigentlich weder  Alleen noch Straßen sind, sondern überbaute Gänge, die zum Teil Dutzende von Metern in die oft nur handtuchschmalen Häuserblöcke hineinführen, auf Lichthöfe oder zu anderen Straßen) und die Brückenverbindungen zwischen den Wohnblöcken über die schmalen und gewundenen Straßen hinweg. 


Das alles, weil Chambéry auf Sumpfboden erbaut wurde und die Häuser sich auf diese Weise gegenseitig stützen. Die geringe Breite der Häuser, so verrät mir der Stadtführer, ist darauf zurück zu führen, dass die damalige Grundsteuer sich genau nach dieser Breite richtete. 

Also richtete man sich darauf ein, womit einmal mehr bewiesen ist, dass kein Gesetz so gut „gestrickt“ ist, dass man nicht einen Weg fände, es zu umgehen. Nach bescheidenen Anfängen dieser ehemaligen Hauptstadt Savoyens entwickelten sich die so raffiniert geplanten Häuser jedoch später während des Barock zu wahren Palästen. 

In der Kathedrale Saint François-de-Sales stoße ich auf die temporäre Ausstellung zum Thema des Turiner Grabtuches Christi, das auf mysteriösen Wegen nach Chambéry gelangte und später nach Turin kam – wie erzählt wird durch eine List:  Der dortige Bischof, der eigentlich geschworen hatte, nach Chambéry zu eben diesem Tuch pilgern wollen, erkrankte auf wundersame Weise, sodass nun im Gegenteil das Tuch nach Turin gebracht werden musste, wo es trotz aller Bitten um Rückführung bis heute aufbewahrt wird. Die sehr ausführliche Ausstellung zeigt auf zahlreichen Tafeln die Geschichte dieses Tuches mit gut erkennbaren Abdrücken eines Körpers und Kreuzigungsspuren und es wird auch erläutert, dass erst 1988 mittels der Carbon14-Methode eindeutig festgestellt werden konnte, dass das Tuch aus der Zeit zwischen 1260 und 1390 stammt und somit keineswegs das Leichentuch Christi sein kann.

Im Inneren der Kathedrale kann man darüber hinaus eine weitere Besonderheit besichtigen, eindrucksvolle „Trompe-l’oeil–Malereien“, mit deren Hilfe Kreuzbögen und Rankenwerk an Wänden und Decken naturgetreu dargestellt sind.

Trompe-l'oeil-Malerei in der Kuppel von Saint François-de-Sales

Die Rue Boigne ist eine Straße, die vom Schloss aus wie mit einem Schwerthieb durch die verwuselten Gassen der Altstadt gehauen erscheint. Sie ist das Werk eines der großen Söhne der Stadt, des Comte Benoît de Boigne. Dieser hatte Ende des 18. Jh. als Heerführer in den Diensten eines indischen Maharadscha ein riesiges Vermögen angehäuft, das er später dazu nutzte, ehrgeizige Projekte in seiner Heimatstadt Chambéry zu verwirklichen. Abgesehen von der Renovierung des großen Theaters in italienischem Stil war es die Verwirklichung dieser Straße, die er mit 300 000 Pfund finanzierte und die zur 
„Prachtmeile“ Chambérys wurde, an der sich die Persönlichkeiten der Stadt niederließen, aber auch Luxusgeschäfte und Lokale, in denen das mondäne Leben von nun an seinen Lauf nahm. 
Die Stadt dankte es ihm nach seinem Tode mit einem eigenartigen Denkmal, das unten aus einem Brunnen, in der Mitte aus vier Elefantentorsen mit Kampfkanzeln und oben aus einer Säule mit einer Statue des edlen Spenders besteht. Angesichts der fehlenden Hinterteile der Elefanten hat der Volksmund schnell einen respektlosen Spitznamen gefunden – „Les 4 sans cul“. Wer wissen will, was das bedeutet, sollte Französisch lernen ...

Es gibt weit mehr zu sehen in Chambéry und ich werde gern noch einmal dorthin fahren. Doch mein Zug wartet nicht, ich muss mich sogar beeilen, rechtzeitig wieder am Bahnhof zu sein. Es klappt; um 11 Uhr 20 sitze ich in meinem TER und gut eine Stunde später stehe ich mit meinen Habseligkeiten auf dem Bahnsteig von Valence TGV, wenige Minuten vor Valence-Stadt, weil ich nicht aufgepasst habe und zu früh ausgestiegen bin. Ich nicht allein, denn auch andere haben den bescheidenen TGV-Zusatz übersehen und stehen erst einmal orientierungslos herum.

Jetzt beginnt fieberhafte Aktion: Wann fährt der nächste Zug nach Valence-Stadt, auf welchem Bahnsteig, wie bewahre ich meine Françoise vor einer Nervenkrise, weil sie ja schon in Kürze am Bahnhof von Montélimar auftauchen wird, um mich abzuholen? Ich finde einen Zug, der in Kürze abgeht, informiere meine bessere Hälfte über den glücklichen Zufall – und sehe im letzen Moment, dass es ein TGV ist, den man nur mit reservierten Platzkarten benutzen darf. Wieder in die Bahnhofshalle, ein TER fährt in einer halben Stunde, wieder Telefonkontakt, bei Ankunft dieses TER steigt wiederum ein Paar falsch aus und schafft es wie ich vorhin nicht, rechtzeitig wieder einzusteigen. Dann geht alles seinen geregelten Gang und eine Stunde nach der ursprünglichen Ankunftszeit bin ich tatsächlich in Montélimar. Ich sehe den Zweifel in den Augen meiner Angebeteten, aber wenigstens sagt sie erst mal nichts ...



Fazit: Auch in diesem Jahr hat die Wanderung auf den Spuren der Hugenotten dem Grad der Vorfreude entsprochen. Eigentlich unnötig zu erwähnen, dass Rainer sich bereits wieder die Fortsetzung – das letzte Stück vom Lac du Bourget bis zur Schweizer Grenze – vorstellen kann. Ich ebenfalls, nur werden die Tagesetappen kürzer sein müssen, denn bei 22 km kommt mir doch schnell der (angeblich von Mark Twain stammende*) Spruch  in den Sinn: „Wenn das Vergnügen zur Pflicht wird, ist es kein Vergnügen mehr“. Man schafft seine Kilometer, weil man sie ja schaffen will und muss, aber für Aufenthalte oder Besichtigungen bleibt keine Zeit. Kommt hinzu, dass man pro 100 m Höhenunterschied jeweils 1 km zur Wanderstrecke hinzurechnen muss, um auf die wahre Tagesleistung zu kommen. Der Tag in Saint Hilaire, wo wir in Ruhe den Gleitschirmseglern zusehen konnten und nur 15 km Tagesmarsch vor uns hatten, ist für mich ein Beispiel, wie es sein sollte.


Es gibt unter http://www.aphorismen.de/suche?autor_quelle=Mark+Twain&seite=35  rund 350 Aussprüche, die
   diesem Meister des Aphorismus  zugeschrieben werden. Nur der oben zitierte ist nicht darunter ...


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